Sonntag, 5. Februar 2012

Darstellungen der UN-Debatte

Wir befinden uns derzeit in einer sozialen Umbruchphase bzw. -phasen. Innerhalb vieler Gesellschaften werden die technologischen, kommunikativen und ökonomischen Veränderungen in einem strukturellen Umbrechen nachvollzogen. Einen Umbruch struktureller (tiefergehender) Art gibt es aber meiner Einschätzung nach derzeit auch in der internationalen Staaten-Welt. Viele bisher (offen) autoritär regierten Staaten bzw. deren Gesellschaften sind in (sozialstrukturelle) Bewegung geraten. Die Gesellschaftssituation, die aufgrund verschiedener Elemente auf Umbruch steht, drückt sich in grundstrukturellen Veränderungen aus. Als Folge dieser Veränderung kommt es in sozialdemographisch nicht saturierten Gesellschaften zu Positions-Verteilungskämpfen.

Die Aufstände gegen autoritäre Regime finden in verschiedenen Ländern mit auch unterschiedlichen konkreten gesellschaftlichen Strukturen statt. Die Aufstände und Veränderungen nehmen daher auch unterschiedliche Ausdrucksformen an. Die soziale Beweglichkeit der Umbruchzeit bedeutet primär eine Infragestellung und vielfach ein Wegschwemmen der bisherigen autoritäre Regime. Dies wird - und diese Ansicht teile ich - verständlicherweise grundsätzlich von den Meisten eher positiv interpretiert.

Dabei wird aber in den Medien oft - in einem gewissen Überschwang und in der Hoffnung, dass es nun (fast automatisch) besser werden müsse - die verschiedenen Gruppen, welche die Aufstände repräsentieren, gleich (zu) pauschal zu den "Guten" und auf der "richtigen" Seite gewertet. Nicht nur der (strukturbedingte und normativ zu begrüßende) Umbruch an sich wird in vielen Medien als grundsätzlich positiv dargestellt. Diese Einschätzung teile ich auch. Aber darüber hinaus werden auch (meiner Einschätzung nach) die Folgen und die reale Gestaltung des Umbruchs in den deutschen Medien derzeit überwiegend (zu) pauschal und undifferenziert als "gut" bzw. unterstützenswert präsentiert.

Mit diesem teilweisen unausgewogenen Bias korrespondiert die derzeitige (vom Umbruchs-Geist beseelte) Darstellung der unterschiedlichen Positionen innerhalb der internationalen Politik und gegenüber der Entwicklung, Auslegung und Anwendung des Völkerrechts. Die durchaus vorhandenen Argumente für Resolutionen, Maßnahmen und Sanktionen werden sehr groß und wertend sehr überwiegend als positiv dargestellt. Die Gegenargumente und Skeptiker bestimmter Entwicklungen (wie der derzeitigen Herausbildung einer Interventions-Tendenz bishin zu einer Debatte um eine dauerhafte Lizenz durch die UNO für bestimmte Staaten zur Durchführung von "Regime Changes") haben meiner Einschätzung nach aber auch bestimmte realpolitische und normative Argumente und Erfahrungen auf ihrer Seite. Diesen Positionen wird aber derzeit, im Überschwang der Umbrüche wie mir derzeit scheint, wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Und wenn, dann leider oftmals nicht sachlich an den Argumenten orientiert, sondern negativ wertend nur als "Bremsklötze" und "Verhinderer" von humanitärem Fortschritt.

(Zu) Pauschales Unverständis für Skeptiker in UN-Sicherheitsrat und Staaten-Welt

Den "Bremsern" werden dabei sehr oft nur wirtschaftliche und sonstige "ungute" Interessen unterstellt. Verschiedene Interessen spielen in den internationalen Beziehungen und der Politik sehr vermutlich immer eine Rolle. Aber das dann eben nicht nur bei den "bösen Verhinderern", sondern auch bei den "guten Voranschreitern" und den "ambivalenten Abwartern". Eine differenziertere Darstellung der Debatte in der internationalen Staaten-Welt wäre hier angezeigt. Dabei unter Einbezug verschiedener Interessen und struktureller Positionen der verschiedenen Staaten und Regionen. Aber eben nach Maßstäben, die für die Staaten gleichermaßen angelegt werden sollten. Ebenfalls sollte das Völkerrecht, als kulturelle Errungenschaft, ernst genommen werden. Es ernst zu nehmen als eigenständiges Phänomen heißt in diesem Fall auch die Debatte um seine Auslegung, Anwendung und eventuelle Veränderung ernst zu nehmen und ausgewogen darzustellen. Eine Debatte, die ich vereinfacht derzeit sehe zwischen den (verschiedenen) Positionen einer "dynamischen Weiterentwicklung" des Völkerrechts in eine bestimmte Richtung ("Responsibility to Protect" etc.) und von (intern ebenfalls unterschiedlichen) Positionen, die dieser bestimmten Entwicklung (aus verschiedenen Gründen) skeptisch gegenüber stehen. Beide Positionen beinhalten und gründen auf verschiedenen Interessen, strukturellen Positionen/Rollen und normativen Argumenten. Daher sollte man auch beide in ihren internen und gegenüber einander differenzierten Bestandteilen darstellen und öffentlich kommunizieren.

Größere Ausgewogenheit wäre jenseits von undifferenziertem "Fortschritt" und Stillstand

Das Verhalten von Russland und China im UN-Sicherheitsrat wird von vielen Medien und manchen Akademikern gemäß einer zu Grunde liegenden (weltgesellschaftlich unausgewogenen) „Fortschritt“/“Verhinderer“-Dichotomie oftmals als (normativ oder realpolitisch) "völlig unverständlich" beschrieben. Russland und China legten als zwei der fünf ständigen UN-Sicherheitsrats-Staaten ihr Veto gegen eine, im Fall des Syrienkonfliktes von Marokko vorgeschlagene, Resolution ein. Diese wurde am 04.02.2012 etwas überraschend eingebracht, obwohl aufgrund der russischen Kritik und Veto-Ankündigung allgemein eher weitere Verhandlungen - und damit auch ein weiterer Austausch von Argumenten (und auch Interessen etc.) - erwartet worden waren.

Marokko sucht jetzt offenbar eine Entscheidung. Die Arabische Liga hatte zuvor an den Sicherheitsrat einen Appell gerichtet, der mehr einem Hilferuf glich. Die Weltgemeinschaft müsse die Gewalt in Syrien, der seit März mindestens 5600 Menschen zum Opfern gefallen sein sollen, stoppen. Im Gegensatz zu vielen anderen Gremien, auch der Vereinten Nationen selbst, war der Sicherheitsrat wegen der russischen und auch chinesischen Blockade bislang stumm geblieben. Quelle: Tagesspiegel online

Russland blieb aber, nicht überraschenderweise, bei der Haltung, die es zuvor erklärt hatte.

Lawrow hatte zuvor in München noch die Bedingungen dargelegt, unter denen Moskau einer Resolution zustimmen könnte. Der bereits modifizierte Entwurf der Arabischen Liga stelle eine Reihe von Forderungen an die Regierung Assads, während er von den im Land agierenden bewaffneten Gruppen nur verlange, die Gewalt einzustellen. Darin sehe Russland eine Parteinahme des Sicherheitsrates in einem Bürgerkrieg - was mit der UN-Charta nicht vereinbar sei. Quelle: Süddeutsche Zeitung online




Quelle: Russia Today (RT) [staatlicher russischer Nachrichtensender]


Opposition nach Syrien-Veto: «Lizenz zum Töten» ZEIT online

Die Verteilung der Rollen in gut/Fortschritt und böse/Fortschritts-Verhinderer in der internationalen Politik und in der Völkerrechts-Gestaltung ist meiner Einschätzung nach zu undifferenziert. Wie gesagt ist das wohl grundlegend dem Umbruch und seiner bewegenden Dynamik geschuldet. Wie man aber mit diesem Umbruch und dem dadurch 'In Bewegung geraten' umgeht und die Neustrukturierung der sozialen Bereiche (in diesem Fall u.a. der internationalen Beziehungen und des Völkerrechts) gestaltet ist durchaus auch eine Frage der Debatte und der öffentlichen Kommunikation über Optionen und Perspektiven. Hierbei sehen viele Medien und auch akademische Beiträge den Fortschritt (relativ) eindeutig auf der Seite der derzeitigen Gestaltung/Weiterentwicklung der "Responsibilty to Protect", des Kapitels VII der UN-Charta etc. zu einer "Responsibilty to Regime Change". Probleme dabei sehen Gegenpositionen unter anderem in der Gefahr eines Automatismus von Interventionen, des Missbrauchs von allgemeiner UN-Legitimation durch bestimmte (z.B. westliche) Interessen und der Vereinnahmung der UN durch jeweilige Machtpräferenzen (entgegen des völkerrechtlichen Ideals der Verrechtlichung unter gleichem Recht aller Staaten). Ein weiteres Problem könnte nach meiner Einschätzung eine im Zuge der Entwicklung eventuell kommende Umgehung/Aufhebung der Sicherheitsrats-Vetomöglichkeit sein. Dies ist derzeit eine nicht direkt anstehende, aber mögliche Entwicklung im Zuge von Veränderungen des Völker-Gewohnheitsrechts. Dies ist schon praktiziert worden im Kosovo-Fall, der ohne die Zustimmung des Sicherheitsrats (wäre mindestens auch an Russland gescheitert) durch die NATO selbsttätig geführt wurde. Auch eine Reform des Sicherheitsrats könnte zu einer solchen Veränderung führen, die die bestehende Gewaltenteilung und "Checks and Balances" innerhalb der UNO deutlich reduzieren könnte. Ein gewisser Ausgleich könnte z.B. durch eine Aufwertung des Internationalen Gerichtshofs geschehen. Diese Aufwertung müsste allerdings sehr stark sein um die Dominanz des Faktischen bzw. der praktischen Politik innerhalb der UN und der internationalen Politik gegenüber der völkerrechtlich-justiziellen Ebene ernsthaft einschränken zu können. Eine solche Veränderung ist - im Gegensatz zu einer Führung von Kriegen außerhalb der bisherigen UNO-Kompentenz-Verteilung - noch nicht ernsthaft in der Debatte.

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