Montag, 20. Februar 2012

Libyen in Leitmedien etwas differenzierter

Die Situation in Libyen war und ist nicht gleich wie die in Syrien. Aber dem Versuch einer differenzierten Darstellung sind beide zugänglich.

'Welt online' hat heute einen relativ differenzierenden Bericht über (evtl. exemplarische) Vorgänge in Libyen rund um Misrata - während des Krieges, deren propagandistische Verarbeitung und nun in der Situation nach dem Umsturz.

Auszüge aus dem Welt online-Artikel:

Gewalt im Krieg:

Die wütenden Brandschatzer, die noch heute immer mal wieder auf der Suche nach Brauchbarem zurückkehren, sind die Milizen aus Misrata, jener Hafenstadt, die im vergangenen Jahr drei Monate lang von Gaddafi-Truppen eingeschlossen und Tag und Nacht bombardiert worden war. Gaddafis Armee hatte damals das nur 50 Kilometer entfernte Tawergha als Hauptquartier gewählt.

Dort wurden Soldaten rekrutiert, Vorstöße in das von Rebellen besetzte Misrata gestartet und Raketen abgeschossen.


Propaganda im Krieg (mit oder ohne gewissen Wirklichkeitsgehalt):

„Die Soldaten aus Tawergha haben die schrecklichsten Schandtaten verübt, Opfer grausam ermordet und Hunderte von Frauen unter dem Einfluss von Viagra vergewaltigt“, berichten jene Libyer, die auf Seiten der Revolution stehen.

Der Vorwurf der Massenvergewaltigungen konnte allerdings von Menschenrechtsvereinigungen nicht bestätigt werden, weder von Amnesty International (ai), noch von Human Rights Watch (HRW) oder Médecins Sans Frontières (MFS).


Gewalt als Rache und Machtdemonstration nach dem Krieg:

[...]
Tawergha wurde nach dem offiziellen Ende der Revolution am 23. Oktober systematisch zerstört. Haus für Haus, Wohnung für Wohnung geplündert und angezündet. Die wenigen verbliebenen Bewohner wurden vertrieben – wenn man sie überhaupt am Leben ließ.
[...]
Die Kämpfer aus Misrata kümmerte das nicht: Tawergha bekam ihren Hass und ihre Rache zu spüren, um die Rückkehr der Bevölkerung – überwiegend Libyer aus dem Süden des Landes mit dunkler Hautfarbe – unmöglich zu machen. Der Hass der Misrata-Milizionäre verfolgt die Einwohner von Tawergha bis in die Hauptstadt: Anfang Februar töteten die Rachsüchtigen fünf Flüchtlinge bei einem Angriff auf ein Lager in Tripolis.


Gewalt in der nach dem formalen Umsturz folgenden Restrukturierung der politischen Herrschaft*. Im Kampf um die neuen Positionen und gegen alte und möglicherweise neue Konkurrenz, d.h. gegen praktische oder auch nur als solche konstruierter potenzielle Gegner:

Die Politik der verbrannten Erde verfolgten die rund 250 Milizen Misratas nicht nur in Tawergha. Sie bombten auch Sirte völlig aus, bevor sie plünderten. Bani Walid, eine andere Hochburg des gestürzten Regimes, erlitt das gleiche Schicksal.

Die Menschen in Misrata verlassen sich auf die Waffenmacht der Milizen, die nicht daran denken, dem Aufruf des NTC Folge zu leisten, ihre Waffen abzugeben. Mit der Waffe, so ihre Befürchtung, geben sie auch ihre Möglichkeit ab, sich im zukünftigen Staat Macht und Einfluss zu sichern.

Mit der Einhaltung der Menschenrechte nimmt man es dabei nicht so genau. Die medizinische Hilfsorganisation MFS stellte im Januar ihre Arbeit in der Hafenstadt ein, weil die Helfer oft gerufen wurden, um Folteropfer in einen gesundheitlichen Zustand zu versetzen, der es den Folterknechten erlaubte, sie weiter zu quälen.



Das ist ein weiteres Indiz dafür, dass in Libyen die Lage vor dem und während des Bürger- und Interventions-Krieges nicht so eindeutig und nach dem Gut/Böse-Schema war, das viele Medien mitgetragen haben. Libyen weist auch nach dem Krieg bzw. zunächst oberflächlichen Umsturz bisher die gleiche soziologisch unklare bzw. noch ungeordnete Lage auf. Eine Neuordnung entlang der soziologischen Verhältnisse, die sich in Handlungs- und Strukturierungs-Verhältnissen ausdrückt, braucht bei komplexer Lage meist etwas länger. Das wird in Libyen die nächsten Monate und evtl. Jahre anstehen. In Syrien hingegen sind die Verhältnisse vermutlich anders, da die aktiven Umsturz-Gruppen eher eine Minderheit repräsentieren. Die Gruppen, die für eine Anpassung der politischen Strukturen an die soziale Grundstruktur auf dem Reform-Wege stehen machen heute wohl ein starkes Gewicht in Syrien aus und sind ohne Intervention von Außen nicht schnell umzustürzen. Die Bewahrung bestimmter politischer und rechtlicher Verfasstheits-Merkmale ist daher in Syrien strukturell ein wichtiger Faktor. Man sollte dem in der Analyse der Lage Rechnung tragen und keine der Gruppen und Seiten verherrlichen oder als einzige Bösewichte darstellen. Das wäre erstens sachfremd und zweitens (hoffentlich) unter dem menschlich möglichen Potenzial zur Erfassung und Differenzierung von gesellschaftlichen Vorgängen.


___
* Die Restrukturierungsphase nach einem Umsturz bzw. während einer Umbruchzeit ist Ausdruck der sozialstrukturellen Situation einer Gesellschaft. Libyen hat viele junge Menschen, die nach Positionen streben und einige verschiedene, teilweise um die gleichen Bereiche konkurrierende, sozialen Gruppen (die je nach Konstruktion z.B. ethnisch, religiös, wirtschaftlich oder anderweitig sozial voneinander abgegrenzt sind).

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