Völkerrecht

Sonntag, 5. Februar 2012

Ausgewogenheit braucht mindestens Zwei

Sind Russland und China denn dann die (alleinig) Guten, wenn sie sich gegen die "westliche" Führungsrolle in der weltpolitischen Entwicklung stellen?

Nö.

Ich halte China innenpolitisch für ein autokratisches und normativ sehr kritikwürdiges Land, Russland in geringerem Maße ebenso. Die westlichen Staaten sind aber eben auch (noch) nicht nicht mehr verbesserungsfähig und vor allem: Trotz guter Institutionen machen auch sie Fehler, die Akteure in der Gesellschaft wie auch die Staaten in ihrer Außenpolitik. Daher müssen auch intern pluralistischer und rechtsstaatlich organisierte Staaten weiterhin in ihrer Struktur und Rollenwahrnehmung kritisiert und debattiert werden. Die Rolle der "westlichen" Länder ist derzeit die des weltgesellschaftlichen Vorreiters. Aber Vorreiten heißt nach meiner Einschätzung vor allem neue Entwicklungen als Erster auszudrücken und zu repräsentieren. Über den Inhalt und die normative und ethische Bewertung der Richtung, in die die Entwicklung geht ist damit noch nichts gesagt. Die Entwicklung der Strukturen kann, aber muss nicht immer "gut" oder "fortschrittlich" sein. Zumindest wenn man kein hegelianisches oder ähnliches Weltbild hat, nach dem der 'Weltgeist' die vorausgehenden/"führenden" Nationen immer besser macht. So gilt Kritik an Herrschaft und Positionsinhabern durchaus auch für westliche Staaten, wenn auch derzeit m.E.n. in deutlich geringerem Maße.

In der internationalen Politik ist es aber aktuell vielleicht besser, dass Russland und China (und teilweise viele der "G77"-Staaten) als ausgleichende Kräfte ein zu einseitig "westlich" bzw. eine von bestimmten subjektiven Interessen (bzw. struktureller Rolle und deren Normen) geführte Entwicklung ausgleichen. Mit natürlich wiederum eigenen Interessen und eigener Rolle in der internationalen Staatenwelt, die ebenfalls subjektiv sind. Aber dadurch kommt eventuell ein inter-subjektiv ausgewogeneres Bild zu Stande. Nicht ideal, vielleicht nicht einmal "gut". Aber vielleicht als kleineres Übel insgesamt bezogen auf eine relativ behutsamere Entwicklung der internationalen Beziehungen unter Einbeziehung nicht nur der "Avantgarde" der westlichen und westlich strukturierten Staaten. Und auch für das Ernstnehmen des Völkerrechts als eigenständig fassbares Phänomen und daher seine schrittweise und relativ abgewogene (und im Ideal auch ausgewogene) Anpassung an die praktischen Verhältnisse – unter Beibehaltung seines Anspruchs, gegenüber konkreten Erscheinungen in der Weltpolitik auch kontrafaktisch zu wirken. Plädiert wird hier also für eine (letztlich unvermeidliche) Verankerung des Völkerrechts in den Grundstrukturen der Weltpolitik und deren Praxis. Aber in der Anpassung an Veränderungen dabei für eine gewisse Behutsamkeit und nicht nur als (überstürztes) rechtsrealistisch-faktisches Anpassen an alle, teils nicht dauerhaften Pendelausschläge (die besonders innerhalb einer turbulenten Umbruchphase widersprüchlich und „unklar“ sein können).

Das rechtsrealistische Element meiner derzeitigen Völkerrechtsauffassung ist also, grob zusammengefasst: Das Völkerrecht muss an die international praktizierte Politik angepasst werden, um die notwendige Verankerung in bzw. mit der Praxis zu haben. Das Völkerrecht muss also (letztlich immer) die strukturellen Gegebenheiten aufnehmen, verarbeiten und repräsentieren. Dabei aber eben als Ordnungselement anhand der Grund-Linien der Entwicklung und nicht als bloße 1:1-Wiedergabe der jeweils tagesaktuellen Ereignisse.

Was sich letztlich auf längere Sicht (in der Restrukturierungsphase der weltpolitischen Ordnungsebene) als neue stabile Rechtsauffassung durchsetzt ist noch nicht klar. So lange sollte sich das Völkerrecht auch noch nicht auf eine bestimmte Stoßrichtung (die eben auch ein kurzfristiger Pendelausschlag sein könnte) festlegen. Wenn etwas sich dann als langfristiger und allgemeiner durchgesetzt herausstellt (sei es nun z.B. die "Responsibility to Protect, in irgend einer Form oder etwas anderes), dann kann und sollte das Völkerrecht diesem Umstand Rechnung tragen. Aber es sollte eben nicht schon am Anfang einer Umbruchphase eine Festlegung auf bestimmte Möglichkeiten geschehen, die in der instabilen/beweglichen Phase einer Veränderungszeit sich noch nicht als allgemein tragfähig erwiesen haben. Gut Ding will (etwas) Weile haben. Denn wenn das Völkerrecht jede kurzfristig heiß debattierte Möglichkeit sofort umsetzen würde, wäre es meiner Einschätzung nach zu sprunghaft und entspräche sozusagen tendenziell einem "reinen Rechtsrealismus". Dann würden die rechtspositivistischen und (neo-)naturrechtlichen Elemente bzw. Potenziale des Völkerrechts sich nicht entfalten.

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